Ich-Perle

Klein und perlmuttfarben schimmert die Ich-Perle. Ich bin nur einen Moment der Stille von Gott entfernt. Oder anders ausgedrückt: Gott ist mir ganz nahe. Es ist kein unüberwindlicher Graben, der mich von Gott trennt, sondern in der Stille kommt er mir nahe und  ich ihm. In der Struktur der Ich-Perle entdecke ich Unregelmäßigkeiten. Mein Leben ist nicht glatt und ohne Konturen. Mein Leben macht mich zu dem Menschen, der ich bin – mit meinen Stärken und meinen Schwächen. Aber weil Gott mich so geschaffen hat, darf ich auch so sein. Ich darf mich annehmen und mich auch in den Mittelpunkt stellen – ich darf sagen: „ICH!“

Ich-Perle

Wer bin ich?

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,

ich träte aus meiner Zelle

gelassen und heiter und fest,

wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.

 

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,

ich spräche mit meinen Bewachern

frei und freundlich und klar,

als hätte ich zu gebieten.

 

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,

ich trüge die Tage des Unglücks

gleichmütig, lächelnd und stolz,

wie einer, der Siegen gewohnt ist.

 

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?

oder bin ich nur das, was ich selber von mir weiß?

Unruhig, sehnsüchtig, krank wie ein Vogel im Käfig,

ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,

hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,

dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,

zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,

umgetrieben vom Warten auf große Dinge,

ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,

müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,

matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen.

 

Wer bin ich? Der oder jener?

Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?

Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler

und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?

Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,

das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.

 

Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

(Dietrich Bonhoeffer, 1944)